Cover des Buchs »Nicht von schlechten Eltern«, erste Auflage 1998

Storytime: Eine (un)gewöhnliche Verlagsgeschichte oder: »Nicht von schlechten Eltern«

Das alltägliche (Arbeits)leben in einem Verlag ist nicht oft emotional. Abgesehen von den für eine klassische Büroarbeit üblichen kleinen Freuden, Problemen und Herausforderungen gibt es in der Regel auch keine großen Geschichten, die ich mit nach Hause nehme. Wie sage ich einem meiner Kollegen immer, wenn er gestresst ist und das Gefühl hat, unter großem Zeitdruck zu stehen – »Wir operieren nicht am offenen Herzen. Es gibt nichts, was so wichtig wäre, dass du oder ich darüber nachts wach liegen müssen.« Alles im Sinne einer Work-Life-Balance, versteht sich.

Heute… Heute ist das ein wenig anders. Für diese Geschichte muss ich jedoch ein wenig ausholen: Vor nunmehr einem Vierteljahrhundert, im Jahr 1998 – kurze Pause für all jene, die sich von dem Schock erholen müssen, dass 1998 ein Vierteljahrhundert her ist – erschien im Psychiatrie Verlag ein Buch mit dem Titel »Nicht von schlechten Eltern«. Fritz Mattejat und Beate Lisofsky haben damals darin die Erfahrungen aus verschiedenen Arbeitsbereichen im Umgang mit Kindern psychisch erkrankter Eltern beleuchtet und über Best-Practice-Modelle und Initiativen für Kinder und Eltern berichtet. Auch Hinweise zur Erschaffung eines interdisziplinären Netzwerks wurden 1998 bereits thematisiert. Die beiden haben aber noch etwas getan: Sie haben die »vergessenen Kinder« selbst zu Wort kommen lassen. Eine Innovation mit ungeahnten Auswirkungen.

Heute Morgen, ich war gerade dabei, die ein oder andere E-Mail zu schreiben – die kleinen Freuden, Probleme und Herausforderungen der Verlagsarbeit – klingelte das Telefon. Am anderen Ende der Leitung fragte eine Frau, nennen wir sie Anna, nach diesem Buch. In der Auflage von 1998. Sie hatte bereits überall gesucht, in Buchhandlungen und sogar bei Amazon, wo sie allerdings nur neuere Auflagen oder gebrauchte Exemplare fand.

»Sie müssen wissen«, sagte Anna mit einem Lächeln in der Stimme. »Ich bin eine der Mitautorinnen und bin damals, mit 26 Jahren, mit Fritz Mattejat und Beate Lisofsky auch auf Lesetour gegangen. Das war das erste Mal, dass ich offen über meine Geschichte sprechen durfte. Das war für mich ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zur Genesung. Ich habe gerade meine Therapie beendet und würde das Buch jetzt gerne meiner Therapeutin schenken. Ich kann wirklich sagen: Dieses Buch hat mein Leben verändert.«

Dieses Buch hat mein Leben verändert. Welcher Verlagsmensch, egal ob Autor*in, Lektor*in, Redakteur*in, Presse- und Öffentlichkeitsarbeitsmitarbeiter*in, träumt nicht von einem Satz wie diesem?

Natürlich habe ich mich nicht lange bitten lassen und bin sogleich in die Tiefen des Verlagsarchivs gestiegen und habe tatsächlich noch ein Exemplar dieses Buchs gefunden. Das weiß gehaltene Cover war mittlerweile leider nicht mehr ganz so weiß wie damals, der Zahn der Zeit geht eben an niemandem spurlos vorbei, aber es war dennoch das »frischeste« Exemplar, das es auf der Welt gibt. »Sind Sie sicher, dass Sie wirklich ein Exemplar aus dem Jahr 1998 haben wollen? Das ist schon ein wenig vergilbt. Ich habe auch eines aus der fünften Auflage von 2005 da«, fragte ich Anna nach meiner erfolgreichen Suche.

»Wenn es geht, bleibe ich bei dem Original. Es ist ein Stück meiner Geschichte.«

Es ist leicht, aus den Augen zu verlieren, dass wir mit unserer Arbeit und auch mit unserem So-Sein im Alltag Teile einer Geschichte sind. Nicht zuletzt unserer eigenen. Und nein, wir operieren nicht am offenen Herzen (zumindest nicht in unserer Branche), aber manchmal sind das Teilen von Geschichten, das Erzählen, Schreiben, Zuhören, Lesen, das richtige Wort zur richtigen Zeit, das offene Ohr in schweren Momenten und die Erfahrung, dass andere Ähnliches erlebt haben, genauso wichtig.

Nein, ich werde auch heute nicht nachts wachliegen. Aber ich werde, bevor ich einschlafe, daran denken, wie wichtig es ist, gute Geschichten (und Hoffnung) zu teilen.

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Foto: Coverdesign aus dem vorigen Jahrhundert (c) Psychiatrie Verlag 1998, Bild »Familie« von Steffen Jost

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